Kapitel 1
Bent
An jedem Samstag unternahm Targrim Remial einen Ausflug mit seinem jüngsten Sohn Bent. Sie stiegen in die schwarze Kutsche, die als eine von wenigen, nicht mit dem goldenen Adler, dem Familienwappen des Königshauses Remial, versehen war. Der Junge fieberte diesen Ausfahrten tagelang entgegen. Es war die wenigen Gelegenheiten, zu denen er Zeit mit seinem Vater verbrachte, ohne dessen Aufmerksamkeit mit seinen drei Brüdern teilen zu müssen. Er betrachtete es als ein Privileg, dass ihn mit einem gewissen Stolz erfüllte. Dabei taten sie nicht viel, außer durch die Stadt zu fahren, aber Bent genoss die ungewohnte Nähe seines Vaters und den Ausblick auf die belebten Straßen von Verny durch die kleinen Fenster des Wagens. Zwar waren diese mit Vorhängen verdeckt, doch wenn der Zehnjährige sich mit dem Rücken fest gegen die Rückenlehne presste, konnte er durch einen schmalen Spalt aus der Kutsche hinausspähen. Er beobachtete die Menschen auf der Straße, die das Gefährt nicht zu bemerken schienen, bestaunte die mit Stuck verzierten Fassaden der Häuser und die dampfbetriebenen Karossen, beneidete die Kinder, die an diesem Sommertag auf der Straße spielten. Manchmal fragte er sich, wie es wäre, wenn er sich ihnen anschließen könnte, aber einem nicht legitimen Sohn des Königs, so wie ihn, blieb das verwehrt. Für ihn gab es nur das Leben innerhalb des Königshofes, inmitten all der strengen Regeln und Verbote. Diese Ausflüge erinnerten ihn daran, dass die Welt weitaus größer war, als die Burganlage des Herrscherhauses und er bestaunte die dort herrschende Freiheit, wie etwas Geheimnisvolles und Exotisches.
Targrim griff in seine Tasche und holte eine Phiole hervor. Die dunkelgrüne Flüssigkeit darin, wirkte im Halbdunkel der Kutsche beinahe schwarz. Er entkorkte sie und reichte sie Bent.
„Es wird Zeit für deine Medizin“, sagte sein Vater nur.
Schweigend nahm der Junge die Phiole entgegen. Er erkannte die Substanz bereits am Geruch, den er nicht benennen konnte. Sie roch künstlich, ließ sich mit nichts vergleichen, was er kannte. In ihm sträubte sich alles dagegen, sie zu sich zu nehmen, aber es war Medizin und sein Vater hielt es für notwendig, dass er sie zu sich nahm. Tapfer kniff er die Augen zusammen und trank die Flüssigkeit in einem Zug aus. Sie schmeckte bitter, rann mit der Trägheit eines Öles durch seine Kehle. Er verzog das Gesicht, als er die Phiole zurück an seinen Vater reichte. Der lächelte zufrieden.
„Du bist ein braver Junge“, lobte er den Zehnjährigen mechanisch.
Auch wenn den Worten die Herzlichkeit fehlte, so freute Bent sich über das Lob. Es kam nur selten vor, dass er gegen seine drei Halbbrüder hervorstach und die Aufmerksamkeit seines Vaters erregte. Jede dieser Freundlichkeiten waren kostbar, wurden von dem Jungen mit der Gier eines Durstigen aufgenommen. Er hätte alles getan, um König Targrim mit Stolz zu erfüllen und bemühte sich nach Kräften, ein folgsamer Sohn zu sein.
Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er unterdrückte ein Wimmern, verschränkte die Arme vor seinem Bauch. Sein Vater verachtete es, wenn man Schwäche zeigte und Bent wollte ihn nicht enttäuschen, wo er doch gerade erst gelobt worden war.
„Fühlst du dich unwohl?“
Die Frage klang eher interessiert, denn mitfühlend. In Targrims Blick lag etwas Forschendes, als er seinen Sohn musterte. Bent nickte verschämt. Er wagte es nicht zu sprechen, weil er befürchtete, dann der Übelkeit nachgeben zu müssen. Die Kutsche rumpelte durch ein Schlagloch und er spürte, wie sein Magen sich hob. Aus einem Reflex heraus, legte er die Hand vor den Mund.
„Nimm dir etwas zu essen aus dem Korb. Dann geht es dir besser“, sagte sein Vater ohne ihn anzusehen.
Er deutete auf den Picknickkorb, der auf der gegenüberliegenden Sitzbank stand. Steifbeinig erhob der Junge sich. Die Kutsche bog um eine Kurve und er schwankte bedenklich. Er musste sich an der Tür abstützen, um nicht hinzufallen. Schnell griff er sich eines der Päckchen aus dem Korb und setzte sich wieder. Vorsichtig öffnete er das Wachspapier und nahm das Sandwich heraus. Er war sich nicht sicher, womit es belegt war, aber das war ihm auch egal. Schon alleine durch die Tatsache, in der Kutsche essen zu dürfen, hob seine Stimmung. Er biss in das weiche, helle Brot, das mit gesalzener Butter bestrichen und Gurkenscheiben belegt war. Es war nicht seine liebste Kombination, doch es reichte, um seinen Magen abzulenken. Zumindest würde er so vermeiden, sich in der Kutsche zu übergeben, wie er es schon oft in der Vergangenheit getan hatte. Er faltete das Wachspapier sorgfältig zusammen und legte es zurück in den Korb. Erleichtert lehnte er sich auf der Sitzbank zurück. Er spähte wieder auf die Straße hinaus, genoss den Nachhall der anerkennenden Worte seines Vaters. Die Straße glitt an ihm vorbei, zusammen mit den Häuserzügen, die nun, nachdem sie den Kern von Verny verließen, weniger zusammengedrängt wirkten. Seine Augen wurden schwer und die Bewegung der Kutsche wiegte ihn sachte. Bent rieb sich über die Augen und blinzelte. Eine Welle aus Müdigkeit überrollte ihn, so machtvoll, dass er nur schwer dagegen ankämpfen konnte. Er unterdrückte ein Gähnen, doch sein Vater bemerkte es.
„Möchtest du schlafen?“, fragte er.
Bent verneinte, hörte seine eigene Stimme wie gedämpft. Er ballte die Hände zu Fäusten, bis seine Nägel sich schmerzhaft in die Handflächen gruben. Er nahm es nur noch wie nebenbei war, als ob dieses Gefühl nicht zu seinem Körper gehören würde. Sein Kinn sackte ihm auf die Brust und er riss den Kopf in die Höhe. Vielleicht würde es ihm besser gehen, wenn er nur für einen Moment die Augen schloss. Nur für die Dauer weniger Herzschläge. Seine Lider schlossen sich. Er kämpfte nicht länger gegen dieses Verlangen an und ehe er sich versah, war er eingeschlafen.
Er schreckte auf, als er grob angestoßen wurde. Targrim sah ihn streng an.
„Wir sind da. Beeil dich gefälligst.“
Schlaftrunken kletterte Bent nach ihm aus der Kutsche. Der helle Sonnenschein blendete ihn und er blinzelte dagegen an. Sein Verstand war wie benommen. Verwirrt sah er sich um. Die Gegend war ihm bekannt, aber er konnte sich nicht an den Weg erinnern, den sie genommen hatten. Entlang der Straße befanden sich langgezogene, riesige Lagerhäuser und Hallen. Früher war dies ein belebter Bezirk gewesen, in dem Fabriken, Händler und Brauereien angesiedelt waren. Doch mittlerweile gab es ein neues, größeres Industriegebiet auf der anderen Seite der Stadt und man hatte diesen Bezirk verwaisen lassen. Zwischen den Pflastersteinen wucherte Gras und die Fenster der meisten Gebäude waren zerstört, schienen wie blinde Augen ins Nichts zu starren. Selbst die Wärme der Sonnenstrahlen schien in dieser Trostlosigkeit an Temperatur zu verlieren. Aus den Augenwinkeln bemerkte Bent einen streunenden Hund, der sich eilig in eine Gasse zwischen zwei Lagerhäuser flüchtete. Es erschien dem Jungen beinahe befremdlich, an diesem Ort ein Anzeichen von Leben zu entdecken. Vor ihm erhob sich ein tristes, verwittertes Gebäude, das ihm nur allzu bekannt war, auch wenn die Erinnerungen ihm seltsam nebelhaft erschienen, als ob sie sich weigern würden, sich zu zeigen. Er blickte zu den vergitterten Fenster hinauf, hinter denen er einen Schimmer künstlichen Lichtes zu erahnen glaubte.
„Du weißt, wo wir sind?“, fragte Targrim ihn prüfend.
„Ja, Vater. Wir besuchen Herrn Doktor Gillen und Beast.“
„Du hättest beinahe das Buch in der Kutsche liegengelassen, das du mitnehmen wolltest.“
Targrim reichte ihm einen in dunkles Leder gebundenen Band.
„Entschuldige Vater.“ Bent musterte das Buch und runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht daran erinnern es ausgewählt zu haben. Solche Dinge passierten ihm ständig und waren der Grund dafür, dass er besondere Medikamente einnehmen musste. Um seinen Vater nicht zu verstimmen, versuchte er die Situation zu überspielen. „Ich habe mir erlaubt, ein Märchenbuch auszuwählen, wenn es dir und dem Herrn Doktor recht ist. Beast mag Märchen ebenso gerne, wie ich.“
Er sprach langsam, wählte seine Worte bedächtig. Die Gedanken flossen zäh wie Honig durch seinen Kopf. Sein Vater ging darüber hinweg und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
„Sehr gut. Es gefällt mir, wie gut du mitdenkst und planst. Das ist sehr klug und mitfühlend von dir.“
Sie traten auf ein großes Tor zu, das den einzigen Eingang zu dem Gebäude bildete. Anstatt die Türglocke zu betätigen klopfte Targrim in einem bestimmten Takt gegen das Tor. Bent war dieses Signal bekannt. Zwei Mal kurz, zwei Mal lang, drei mal kurz. Während sie warteten, dachte er über die Abweichung im Rhythmus nach. Offenbar sollte damit vermieden werden, dass jemand Fremdes zufällig das gleiche Signal benutzte. Im Inneren näherten sich dumpfe Schritte. Das Tor öffnete sich einen schmalen Spalt breit. Bent erkannte das verkniffene Gesicht des Doktors, der die Augenbrauen zusammenzog und sie missmutig anstarrte. Erst, als er König Targrim erkannte, hellte sich seine Miene auf.
„Eure Majestät“, sagte er hastig und öffnete ihnen. „Ich habe Euch bereits erwartet. Welche Ehre, dass Sie mich aufsuchen.“
Demütig beschrieb er einen Diener, als Targrim an ihm vorbeiging.
„Sparen Sie sich Ihre Buckelei, Gillen. Sie wissen genau, warum ich Sie aufsuche.“
„Ihr werdet zufrieden sein, Eure Majestät, denn ich habe gute Neuigkeiten.“
Bent folgte seinem Vater und blickte zu dem steifgliedrigen Mann, in seinem weißen Kittel auf. Das grelle Licht der Glühbirnen, die die Halle ausleuchteten, verlieh seiner Haut eine teigige Blässe. Er musterte den Jungen aufmerksam von Kopf bis Fuß.
„Wie schön, dass du mich ebenfalls besuchst, Bent. Wie geht es dir?“
Der Tonfall des Mannes sollte freundlich klingen, doch es lag etwas Lauerndes darin. Unbehaglich hielt sich der Junge das Buch vor die Brust, als ob er sich damit vor seinem Gegenüber abschirmen konnte.
„Guten Tag, Herr Doktor Gillen.“ Bent fügte der förmlichen Begrüßung eine kleine Verneigung hinzu. „Vielen Dank, dass sie sich danach erkundigen, Herr Doktor. Mein Befinden ist hervorragend.“
„Du kannst bereits nach hinten gehen. Ich habe Einiges mit deinem Vater zu besprechen und werde dich später untersuchen. Sei aber vorsichtig! Er hat eine neue Hand bekommen und ist noch ungelenk in ihrem Gebrauch. Nicht, dass er dich versehentlich kratzt.“
Er deutete in den hinteren Bereich der Halle, in der verschiedene Arbeitstische verteilt standen. Bent kannte die Funktionen der Apparaturen, die sich darauf befanden, nicht. Die blinkenden Anzeigen, Schalter und Knöpfe faszinierten ihn, aber er wagte es nicht, auch nur einen davon zu berühren. In großen Glaskolben erhitzten vielfarbige Flüssigkeiten, die einen beißenden chemischen Geruch verströmten.
Eilig lief Bent an den blank gescheuerten Untersuchungstischen vorbei, auf einen der drei großen Käfig zu, der zur Hälfte von Vorhängen verdeckt war. Sein Herz pochte vor Aufregung, wenn er an die Geschichten dachte, die er gleich vorlesen würde. Er vergaß sich sogar soweit, dass er die letzten Meter rannte, anstatt gemessenen Schrittes zu gehen. Das stählerne Gefängnis hatte sich nicht verändert. Es bestand noch immer aus dem inneren Käfig und einer schmalen Freifläche, die von einem weiteren Gitterbau umrundet wurde. Er stellte sich vor das erste Tor und wartete darauf, dass der Doktor es von seinem Arbeitstisch aus elektrisch entriegelte. Das Schloss des Schleusentores summte leise und ein Klacken war zu hören, als der Riegel sich löste. Bent trat in den Durchgang und schloss die Tür hinter sich. Erst dann öffnete sich die Tür in den eigentlichen Käfig. Langsam trat er in den Innenraum. Er wusste, dass Beast sich vor hastigen Bewegungen erschreckte und das Letzte, was Bent wollte, war seinen Freund zu erschrecken. Durch die Vorhänge lag der hintere Teil des Gefängnisses in einem diffusen Halbdunkel. Dort befand sich ein Lager aus Decken und flachen Matratzen. Sie waren hart und durchgelegen. Er konnte sich kaum vorstellen, dass man auf ihnen bequem schlafen konnte, aber zumindest hielten sie die Kälte des Steinbodens zurück. Bent erinnerte sich dunkel daran, dass irgendwann auch ein Bett vorhanden gewesen war. Doch Beast hatte es in einem Wutanfall zerstört, und weder der Doktor, noch sein Vater hatten eine Notwendigkeit darin gesehen, es zu ersetzen.
Eine schattenhafte Gestalt bewegte sich auf dem unordentlichen Haufen auf ihn zu. Sie kroch mehr, denn dass sie ging. Die Umrisse eines kleinen, dürren Jungens zeichneten sich ab, bis er ins Licht traten und vollends sichtbar wurde. Wirres, dunkles Haar stand von dem Kopf des Siebenjährigen ab und er starrte Bent mit seinen großen, beinahe schwarzen Augen an. Ein freudiges Funkeln ließ sie wie Kohlen glühen. Der Kiefer aus Stahl glänzte auf, als er den Mund öffnete.
„Bent“, flüsterte er heiser.
„Ich habe ein Buch mitgebracht“, sagte der grinsend. „Du wirst staunen, was für großartige Geschichten darin stehen!“
„Bent“, wiederholte der Junge.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen. Mit etwas Glück haben wir ganz viel Zeit, Beast. Vater hat etwas mit dem Doktor zu besprechen.“
Er war es gewohnt, dass Beast kaum verständlich sprechen konnte. Es fiel ihm wegen des mechanischen Kiefers schwer, mehr als einzelne Wörter auszusprechen. Doch daran war Bent gewöhnt und nach drei Jahren verstand er den Jungen ohne Schwierigkeiten. Er hatte gelernt, auf die Betonungen und Schwingungen in der Stimme des Anderen zu achten und hörte die Bedeutung seiner Aussagen eher intuitiv heraus.
„Doktor Gillen sagte, dass du eine neue Hand hast.“
Beast nickte und streckte seinen rechte Arm nach ihm aus, drehte und wendete ihn. Man hatte ihm den kompletten Unterarm entfernt und durch ein Konstrukt aus Stahlstreben und künstlichen Gelenken ersetzt. Feine Kabel ersetzten nun die Adern und die Hydraulik surrte leise, als er seine Finger bewegte. Bent entfuhr ein beeindruckter Ausruf.
„Deine Hand! So etwas habe ich noch nie gesehen!“
Ihm stockte der Atem, als Beast näher an ihn herantrat und ihm die Stahlklauen dichter vor die Nase hielt, damit er sie besser sehen konnte. Fasziniert betrachtete er die winzigen Gelenke und die kleinen Stahlplatten, die die darunterliegenden Zahnräder und Kabel verbargen. Es war eine Meisterleistung der Technik, ein Geniestreich der Feinmechanik. Selbst mit seinen zehn Jahren begriff er, welches Wunderwerk er bestaunen durfte.
„Hat es sehr weh getan?“, fragte Bent besorgt, doch der Junge schüttelte nur den Kopf.
Erst jetzt bemerkte er die tiefen Schatten unter den Augen des Kindes. Es wirkte erschöpft und übernächtigt. Beschämt senkte Bent den Kopf. In seiner Neugierde hatte er den erbarmungswürdigen Anblick seines Freundes völlig übergangen. Er deutete auf eine kleine Kiste, die an der Rückwand des Käfigs stand.
„Möchtest du etwas mit den Holzklötzen bauen?“
Beast schüttelte müde den Kopf und deutete mit seinen Klauen auf das Buch unter Bents Arm. Sie setzten sich auf eine der Matratzen und lehnten sich gegen die Gitterstäbe. Das war nicht sonderlich bequem, aber eine andere Sitzgelegenheit gab es nicht. Beast kauerte sich neben ihn, lehnte seinen Kopf gegen Bents Schulter. Es war unangenehm, wenn der harten Metallkiefer sich gegen ihn drückte, aber er konnte nachvollziehen, warum Beast es tat. Wenn auch nicht vom Verstand her, so doch mit seinem Herzen. Der kleine Junge suchte seine Nähe in der Trostlosigkeit der Gitter. Darin waren die Kinder sich ähnlich. Mochte dieser Käfig auch das Gefängnis von Beast sein, das von Bent war die Welt außerhalb dieses Lagerhauses. Es gab für sie beide kein Entkommen, aber wenn sie zusammen waren, fühlten sie sich weniger einsam.
Targrim und der Doktor standen neben den Untersuchungstischen und unterhielten sich. Bent beachtete sie nicht weiter, nahm ihre Stimmen nur als Raunen war. Er horchte erst auf, als sein Name fiel.
„Wie spricht Bent auf die Medikation an, die wir ihm verabreichen?“, fragte Gillen.
„Die Wirkung ist erstaunlich, obwohl ich Zweifel hatte, ob die Dosierung noch ausreicht. Schließlich ist er gerade in der letzten Zeit stark gewachsen und hat an Gewicht zugelegt. Aber letztendlich verläuft alles, wie geplant. Das grüne Serum weckt seine Erinnerungen an diesen Ort, während die Injektionen, die Sie ihm verabreichen sein Gedächtnis löscht. Das Einzige, woran er sich erinnert ist die Fahrt in der Kutsche. Er klagt lediglich über Übelkeit und ist benommen und schläfrig. Die Nebenwirkungen setzen ihm etwas zu, aber das lässt sich nicht ändern.“
„Seine Konstitution ist bemerkenswert. Als Sie ihn damals als Versuchsperson vorgeschlagen haben, dachte ich nicht, dass diese Studie ein solcher Erfolg wird!“
Targrim griff nach den Unterlagen, die vor ihm auf dem Tischlagen und blätterte sie flüchtig durch. All die Kolonnen an Daten und Notizen sagten ihm nichts, zumal er kaum die hingekritzelte Handschrift des Wissenschaftlers entziffern konnte. Das war jedoch egal. Er war dafür zuständig, dass dem Doktor die finanziellen Mittel nicht ausgingen und Dr. Gillen hatte im Gegenzug für Fortschritte in der Forschung zu sorgen.
„Es ist ein erfreulicher Nebeneffekt, dass er noch nicht gestorben ist, so wie die anderen Testpersonen, aber wie steht um unseren wichtigsten Kandidaten?“
„Objekt 27, genannt Beast, ist der einzige, der die Behandlungen und Eingriffe überlebt hat. Es gab ein paar Schwierigkeiten, da sein Körper die mechanische Prothese abstoßen wollte. Mittlerweile reagiert er jedoch sehr gut darauf, ist jedoch noch etwas ungeschickt in ihrer Handhabung. Der Greifreflex funktioniert noch nicht so gut wie er sollte, aber mit etwas Übung wird sich auch das legen.“
„In der vergangenen Woche waren es doch noch zwei weitere Objekte“, erinnerte sich Targrim.
„Sie sind überraschend gestorben. Leider haben sie die Implantate abgestoßen und erlitten dadurch Infektionen, die sich nicht eindämmen ließen und letztendlich zum Tode führten.“
Targrim hörte ihm aufmerksam zu und nickte bedächtig. Er sah hinüber zu dem Käfig, wo die Jungen nebeneinander auf dem Boden saßen. Bents ruhige, klare Stimme drang zu ihm hinüber.
„Das ist bedauerlich. Immerhin hat die Versuche an ihnen Einiges an Geld gekostet. Aber gut. Immerhin haben wir noch die beiden Jungen.“
Der Wissenschaftler bot ihm Tee an. Ein Angebot, das König Targrim nur widerwillig annahm. Es diente mehr dazu, Zeit zu schinden, denn das er Verlangen nach der Gillens Gesellschaft verspürte. Er war eine unangenehme Person, ein heuchlerischer Kriecher, der sogar seine Seele verkaufen würde, nur um an Kapital für seine Forschungen zu gelangen. Solche Männer waren gefährlich und wankelmütig. Man musste sich vorsehen, damit er weiterhin seine Arbeit tat und sich nicht nach großzügigeren Geldgebern umsah. Targrim brauchte die Ergebnisse der Forschungen für den Einsatz innerhalb seiner Truppen. Alleine das Serum, das die menschliche Kraft ins titanenhafte steigerte konnte den Verlauf einer Schlacht entscheidend verändern. Von den mechanischen Protesten, wie sie Beast trug, mochte er gar nicht erst reden. Jeder Soldat, der damit ausgestattet war, wurde theoretisch unbezwingbar. Ein Gedanke, der Targrim in Hochstimmung versetzte. Doktor Gillen stellte ein Tablett mit Teegeschirr auf dem Tisch ab. Targrim betrachtete es angewidert. Mochte dieser Mann auf seinem Gebiet ein Genie sein und seine Gerätschaften penibel pflegen, so nachlässig war er gegen seine eigene Person und seinen privaten Besitz. Die Tassen waren angeschlagen, hatten teilweise Sprünge. Nicht einmal eine Teekanne war vorhanden. Der Wissenschaftler schenkte ihm direkt aus einem verbeulten Wasserkessel ein. Targrim schnaubte verächtlich und schob die angebotene Tasse beiseite. Für heute hatte er genug gesehen und gehört.
„Es wird Zeit, um aufzubrechen. Holen Sie den Jungen“, wies er Gillen an.
Irritiert sah der Doktor ihn an, rief dann jedoch nach Bent. Er und Beast zuckten erschrocken zusammen, als sie den Ruf hörten. Sie fuhren auseinander und erhoben sich schnell. Beast versuchte ihn an seinem Hosenbein festzuhalten, doch Bent schob seine Hände sanft aber bestimmt beiseite. Mit dem Buch unter dem Arm durchquerte er die Tore und verließ den Käfig.
„Wir fahren zurück zur Burg“, sagte Targrim knapp, als Bent sich näherte.
Der Doktor eilte zu einer der Anrichten und kehrte kurz darauf mit einem Stahltablett zurück, auf dem seine Utensilien fein säuberlich arrangiert waren. Bent sog scharf die Luft ein, als er die Spritze sah.
„Krempel deinen Ärmel auf“, sagte der Doktor.
Gehorsam kam Bent den Anweisungen nach und hielt dem Arzt seinen nackten Unterarm entgegen. Prüfend klopfte der darauf und suchte nach einem Blutgefäß. Hinter Bent erklang ein metallisches Kratzen. Beast fuhr mit seiner Eisenklaue über die Gitterstäbe. Unruhe stand in seinem Blick.
„Bent!“, krächzte er heiser.
„Es ist nur eine Spritze, Beast“, sagte der.
Er versuchte das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken, aber die Nadel der Spritze war lang und dick, die Flüssigkeit, die sie enthielt, dunkel wie Blut. Ein nervöses Kribbeln rann über seinen ganzen Körper. Angespannt biss er die Zähne zusammen. Der Einstich schmerzte ungemein. Sein ganzer Arm brannte wie Feuer und pochte. Er biss sich auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Trotz seiner Qualen drehte er sich zu Beast um und grinste.
„Das war nicht schlimm“, sagte er, nur um den Jungen zu beruhigen.
Er presste einen Wattebausch auf die Einstichstelle und winkelte den Arm an. Der Schmerz fuhr bis in seine Schulter hinauf.
„Verabschiede dich“, wies sein Vater ihn ungeduldig an.
Bent trat gehorsam an das äußere Gitter heran. Beast presste sich auf seiner Seite dagegen. Er streckte seinen Arm über den Zwischenraum nach dem Jungen aus. Bent lächelte und ergriff die Hand.
„Auf Wiedersehen, Beast. Wir sehen uns bestimmt bald wieder und dann lese ich dir wieder vor, wenn du magst.“
Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Eine Welle aus Übelkeit breitete sich in ihm aus. Er versuchte den Würgereiz zu unterdrücken, erbrach sich jedoch in einem Schwall. Seine Knie gaben nach. Bent versuchte sich an den Gitterstäben festzuhalten, doch er sackte haltlos zu Boden. Der Gestank seines eigenen Erbrochenem raubte ihm den Atem. Beast kreischte entsetzt auf. Der schrille Laut dröhnte schmerzhaft in Bents Ohren.
„Es ist gut, Beast“, keuchte er kraftlos.
Er versuchte den Kopf zu heben, um den Jungen anzusehen, doch die gleißende Funken vor seinen Augen nahmen ihm die Sicht.
„Es ist gut“, wiederholte er murmelnd.
Bent spürte, wie er zur Seite fiel. Die Bewegung erschien ihm ungewöhnlich langsam, als ob die Zeit ins Stocken geraten würde. Vor ihm umklammerte Beast die Gitterstäbe und rüttelte wie besessen daran. Der ganze Käfig begann zu schwanken. Die dumpfen Schritte seines Vaters und des Doktors näherten sich. Der Boden schien unter ihnen zu vibrieren.
„Es ist gut“, dachte er erschöpft.
Dann versank der Raum in Finsternis und Bent mit ihm.
© Bianca Schäfer 2018
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